
Autor:in: Jana Gioia Baurmann
»Mich brauchte es in dieser Rolle nicht mehr.«
Seit 40 Jahren sucht und begleitet Ashoka Menschen, die neue Wege suchen und gehen: Lässt sich Wirtschaft auch anders denken? Wie erreichen wir ein besseres Miteinander? Es ist höchste Zeit, diesen Menschen zuzuhören – auch um von ihnen zu lernen. In der digitalen Diskussionsreihe »Gespräche unterm Baum« fragen wir Ashoka-Fellows, was sie antreibt, welche Vorstellung sie von einer nachhaltigen und fairen Gesellschaft haben und wie wir immer mehr Menschen ermöglichen können, diese Gesellschaft aktiv mit zu gestalten.
In der ersten Folge erzählt der britische Ashoka-Fellow Michael Sani über seine Organisation ‘Bite The Ballot’ und wie er es geschafft hat – trotz der Liebe und des Eifers für dieses Projekt – auch auf sich selbst Acht zu geben. Und dass Ashoka-Partner Odin Mühlenbein ihn dazu ermutigt hat, andere Wege zu gehen.
An diesem Abend ist Michael Sani, seit 2014 Ashoka-Fellow, aus Kairo zugeschaltet. Bevor er Sozialunternehmer wurde, arbeitete Sani jahrelang als Lehrer an einer Gesamtschule im britischen Kent. Die Idee, Bite The Ballot zu gründen, entstand dort. Sanis Chef, damals 61 Jahre alt, fragte ihn, ob er bei den bevorstehenden Parlamentswahlen zur Wahl gehen würde. Er interessiere sich nicht so für Politik, antwortete Sani, damals 27 Jahre alt. Und er musste zugeben, nicht einmal für die Wahlen registriert zu sein. Dieser Moment sei ein Wendepunkt in seinem Leben gewesen, erzählt Sani rückblickend.
Nach diesem Gespräch mit seinem Chef wollte Michael Sani herauszufinden, wie es möglich sein konnte, neun Jahre in einem demokratischen Staat als Wahlberechtigter zu leben, ohne zu lernen, wie man sich registrieren lässt. Auf der Suche nach Antworten stellte er fest, dass auch die meisten seiner Schüler:innen wenig über das demokratische System wussten – und sich nicht bewusst darüber waren, welche Macht ihre (Wahl-) Stimmen hatten. Zahlen belegen, dass sich weniger als 45 Prozent der 18- bis 25-Jährigen in Großbritannien zur Wahl registrieren. Sani war entschlossen, dies zu ändern – und gründete Bite The Ballot (zu Deutsch: nach dem Stimmzettel greifen).
Ein Jahr lang war Bite The Ballot eine Schulrunde, die sich um die Mittagszeit traf. Dann kündigte Sani seinen Job und begann, Schulen im ganzen Land zu besuchen. Jeden Tag saß er mit rund 90 Schüler:innen zusammen und unterhielt sich mit ihnen über Demokratie und Politik, fünf Tage die Woche.
2014 wurde er Ashoka-Fellow. »In einer Welt, in der Menschen wie ich sich oft ungesehen fühlen, schafft Ashoka es, uns mit anderen Gleichdenkenden zusammen zu bringen«, sagt Sani. Als Fellow, erzählt er im Gespräch, habe er gelernt, seine Strategie zu ändern. Denn Ashoka-Partner Odin Mühlenbein sagte zu ihm: ‚Es ist schon schön, was du da machst, aber da geht doch mehr!’ Michael Sani begann, Social Media-Kampagnen zu starten – Bite The Ballot erreichte damit Zehntausende von Jugendlichen. Dann suchte er den Austausch mit Politiker:innen.
»Ende letzten Jahres habe ich bei Bite The Ballot aufgehört«, sagt Sani. Zum einen weil er mit der Organisation sein systemisches Ziel erreicht hatte: Im Zuge der Brexit-Verhandlungen waren viele ähnliche Organisationen entstanden, »mich brauchte es nicht mehr in dieser Rolle«. Bite The Ballot loszulassen sei ein langer Prozess für ihn gewesen – und er musste verstehen, dass mehr zu arbeiten nicht unbedingt bedeutet, mehr Wirkung zu erzielen. »Die zehn Jahre haben mich auch müde gemacht. Michael Sani war Bite The Ballot, zu 100 Prozent, das wurde irgendwann zu viel …« Nachdem er an dem Wellbeing-Programm von Ashoka teilgenommen hatte, entschied er, auf sich und seine Bedürfnisse zu hören.
2017 entstand aus Bite The Ballot heraus Play Verto, ebenfalls ein Sozialunternehmen, allerdings gewinnorientiert. Sani ist der Geschäftsführer. Play Verto sammelt anonymisierte Daten und Trends, um zu verstehen, welche Themen den Menschen am meisten am Herzen liegen, und um die Bedingungen zu erforschen, die es ihnen ermöglichen, gemeinsam für Veränderungen einzutreten.
Das Gespräch zum Nachhören gibt es hier.