»Wenn wir ein Start-up wären,
würden wir mit Geld zugeschüttet werden.«

Autor:in: Jana Gioia Baurmann

Bild: Christian Klant

»Wenn wir ein Start-up wären,
würden wir mit Geld zugeschüttet werden.«

Für Thorsten Kiefer und WASH United kamen mit der Pandemie erst einmal die Zweifel: Schaffen wir das? Doch er und sein Team ließen sich davon nicht lähmen. Wie Thorsten 2020 erlebt hat und was er sich fürs kommende Jahr vorgenommen hat, darüber erzählt er im Interview.

Ashoka: Mit welchen Erwartungen bist du in 2020 gestartet?

Thorsten: Meine Hoffnung für WASH United an sich war, in ruhigeres Fahrwasser zu kommen. Ein Jahr zu haben, in dem man mit weniger Zeitdruck arbeitet und weniger oft ans Limit geht. Da waren wir eigentlich auf einem guten Weg im Januar – denn sonst ist das erste Halbjahr immer sehr stressig, da im Mai Weltmenstruationstag ist, unsere größte globale Kampagne. Als die Pandemie kam, standen wir vor der Aufgabe, eine weltweite Kampagne mit inzwischen über 630 Partnerorganisationen, die im letzten Jahr mehr als 720 Veranstaltungen in 76 Ländern hatte, entweder innerhalb von Wochen komplett auf digital umzustellen – oder es zu lassen.

Vor dieser plötzlichen Digitalisierung standen ja alle. Wie seid ihr vorgegangen?

Als Organisation hatten bis wir bis dato Berührungsängste, was das Digitale angeht: Können wir das? Wollen wir das? Ist das wirklich unser Ding? Im März mussten wir uns plötzlich fragen: Wenn es keine Veranstaltungen rund um den Weltmenstruationstag geben wird – wie können wir es schaffen, trotzdem ein Community-Gefühl herzustellen? Wie kann es uns gelingen, dass Austausch stattfindet? In der Vergangenheit hatten wir immer davon geträumt, am 28. Mai eine zentrale globale Veranstaltung zu organisieren. Eine analoge Veranstaltung war aber unbezahlbar. Und so ein Event digital zu veranstalten, trauten wir uns vor Covid-19 einfach nicht zu.

Ich höre raus, dass ihr solch ein internationales Event gewagt habt …

Ja! Wir haben ein professionelles Produktionsteam gemietet und waren am 28. Mai mit Studio MH Day insgesamt fast sieben Stunden lang live auf Sendung. Ganz früh am Morgen war die Session für Asien-Pazifik, Afrika-Europa am Mittag, Nord- und Lateinamerika folgte am Abend. Es gab zahllose spannende Gespräche mit den verschiedensten MH Day Partnern aus aller Welt, von kleinen NGOs aus Samoa über Fernsehstars aus Kenia bis hin zu Procter & Gamble, Weltbank und der Bill & Melinda Gates Foundation. Solch diverse Partner zusammenzubringen wäre analog niemals möglich gewesen. Es war eine fantastische Erfahrung, da hat Covid-19 uns zu unserem Glück gezwungen. Studio MH Day gibt es 2021 auf jeden Fall wieder – mit oder ohne Pandemie.

Vor welche Herausforderungen hat Covid-19 euch sonst noch gestellt?

Es war nicht einfach, das Thema Menstruation in Medien und Politik auf den Schirm zu bekommen. Uns beschäftigte vor allem, wie wir dafür sorgen können, dass das Thema während der Pandemie nicht wieder vom Radar verschwindet. Von letzterer hatten wir bereits im März das Signal bekommen: Themen, die keinen Covid-Bezug haben, kriegen wir bei den Minister:innen aktuell nicht auf den Tisch. Und auch die Medien berichteten fast ausschließlich über Covid. Wir haben also einen neuen Hashtag geschaffen, #PeriodsInPandemics, und gemeinsam mit einer Vielzahl von Partnerorganisationen eine – wie ich finde – großartige Infografik zum Thema erstellt. Zusammen mit dem Weltverband der Pfadfinderinnen machten wir außerdem eine Umfrage mit fast 4000 Mädchen in mehr als 160 Ländern zu der Frage: Wie erfahrt ihr die Periode während der Pandemie? So konnten wir über die normalen Geschichten hinaus immer einen Link zu Covid schaffen – und das Thema fiel bei entscheidenden Posten nicht vom Tisch.

Wart ihr erfolgreich?

Und wie! Der Weltmenstruationstag 2020 war ein mega krasser Erfolg. Mit der Kampagne konnten wir weltweit mehr als 411 Millionen Menschen erreichen, 30 Prozent mehr als im Jahr zuvor – und das war schon ein Rekordjahr gewesen. Insgesamt gab es über 4100 Medienberichte zum Thema, das waren über 80% mehr als im Vorjahr. Die Infografik war unser meist herunter geladener Inhalt. Medien und MH Day-Partnerorganisationen nutzten das ohne Ende.

Die Sorge, dass Themen abseits von Covid-19 kein beziehungsweise weniger Gehör mehr finden, betrifft auch andere Bereiche. Welche Tipps hast du, Themen präsent zu halten?

Nehmen wir mal konkret das Beispiel Menstruation. Wir haben versucht zu kommunizieren: Das sind die größten Probleme derzeit und das liegt dahinter. Und auch: Wo liegt die Lösung – für jetzt und auch danach? Ich wäre vorsichtig damit, ein bestimmtes Problem ausschließlich mit der Krise zu verknüpfen. Denn sollte die Pandemie irgendwann einmal vorbei sein, wäre auch das Thema weg.

Ihr seid Teil von Changemakers United, ein länderübergreifendes Programm von Ashoka, das im April entstanden ist und das gezielt Sozialunternehmer:innen unterstützen will, die sich mit Covid-19 beschäftigen. Wie bist du dazu gekommen?

Im Hinblick auf die Pandemie und die besonderen Herausforderungen haben wir, gemeinsam mit der Welthungerhilfe, Aufklärungsmaterialien für Kinder und Jugendliche in 25 Sprachen entwickelt. So kamen wir zu dem Programm. Es war super zu sehen, wie schnell Ashoka in der Lage ist, Leute zusammen zu bringen und einen Austausch zu starten. Das fand ich sehr wertvoll.

Wie erlebst du die Ashoka-Community?

Mit vielen aus der Community arbeite ich zusammen, mit einigen bin ich befreundet. Was ich in diesem Jahr besonders gemerkt habe: Wie viele von uns kämpfen mussten. Um das Überleben ihrer Organisationen, um das eigene Bestehen, um die Wirkung der Projekte. Die Pandemie hat bestehende soziale und gesellschaftliche Herausforderungen nur noch weiter verstärkt. 2020 zeigt doch ganz eindeutig, dass soziale Innovation zwingender und dringender als je zuvor sind, die Beiträge von Sozialunternehmer:innen wie uns sind wichtiger denn je. Wenn ich dann sehe, wie schwer es vielen von uns gemacht wird, weil die Förderinstrumente in Deutschland gefühlt aus der Steinzeit stammen, könnte ich schreien. It’s time to unfuck social impact funding in Deutschland!

Was genau meinst du damit?

Sämtliche staatliche Förderung in Deutschland ist geprägt von dem Wunsch, ja nichts falsch zu machen, also ja nichts zu fördern, wo Steuergelder verschwendet werden könnten. Und diese Haltung überträgt sich auf Stiftungen und andere Geldgeber:innen. Wir müssen einen neuen Konsens, eine ganz neue Haltung zum Thema Finanzierung schaffen: weg von maximaler Kontrolle hin zu echter, auf langfristige Impact-Maximierung ausgerichtete Kooperation. Weg von Misstrauen gegenüber der Zivilgesellschaft hin zu Vertrauen in und Wertschätzung für das soziale Engagement der eigenen Bürger:innen. Weg von kurzfristigen, kleinteiligen, überregulierten Projektförderungen hin zu langfristiger, flexibler, institutioneller Förderung. Länder wie die Niederlande oder Schweden haben das auch geschafft – und leben es vor.

Was glaubst du wird passieren, wenn sich da in Deutschland nichts ändert?

Wir – die heute diese Themen vorantreiben und die, die nach uns kommen – werden immer mit einer oder zwei Kugeln im Knie herumlaufen. Es hilft der Gesellschaft einfach nicht, wenn Sozialunternehmer-Rockstars wie wir einen Großteil unserer Zeit und Energie für Fundraising verwenden. Der deutsche Staat, Stiftungen und auch private Geldgeber:innen müssen es uns endlich einfacher machen, dass wir uns auf unsere Ideen fokussieren und maximal wirken können. Mal ehrlich: Die äußeren Bedingungen in diesem Jahr waren für uns, also WASH United, katastrophal. Und was haben wir draus gemacht? Wenn wir ein kommerzielles Start-Up wären, würden wir mit Geld zugeschüttet werden. Für uns als Social Impact-Unternehmen aber geht das Hamsterrad einfach weiter.